Die Fibro und ich

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Rheumaliga Schweiz Anita 2023 02 Mid Res

Der Alltag mit einer Schmerzerkrankung ist für viele Menschen nicht vorstellbar. In diesem Artikel beschreibt eine Betroffene, was es heisst, mit täglichen Schmerzen umzugehen, und wie sie ihr Leben damit gestaltet.

Text: Anita Oswald*, Fotos: Conradin Frei, zvg

Es ist ein guter Tag. Die Sonne strahlt vom blauen Himmel, eine Wohlfühlwärme von 25 Grad. Ich habe frei und beschliesse, eine kleine Velotour zu machen. Gerade Strecke mit dem E-Bike. Gemütlich den Sommertag geniessen. Zurück daheim mache ich Pause und esse etwas. Direkt aus dem Kühlschrank, ich mag jetzt nicht kochen. Dann erwartet mich der Haushalt. Neben der üblichen Aufräumarbeit müssen die Fenster geputzt werden. Ich schaffe alle Rahmen und Fugen, die Fensterscheiben lasse ich aus.

Schon steht der nächste Punkt im Tagesplan an, ich gehe mit Freundinnen aus. Umziehen, schminken, die passenden Schuhe suchen. Wir treffen uns in einer Bar, bei dem schönen Wetter sitzen wir draussen. Ich bestelle einen Sommerdrink mit Alkohol, schön bunt und süss. Wir quatschen und lachen den ganzen Abend. Später ziehen wir weiter, bis zum Schluss sind wir ein ganzes Stück durch die Stadt gelaufen.

Ich bin spät zu Hause, das wird eine kurze Nacht. Ein paar Stunden später, fünf Uhr früh. Ich wache auf, weil meine rechte Seite brennt. Ein Lavastrom kriecht von meiner Schulter in meinen Arm bis zu den Fingerspitzen vor. Die Lava fliesst über meine Rippen zur Hüfte, ergiesst sich über den Oberschenkel. Die Lava steckt in meinen Muskeln, sie umspült Knochen und Sehnen. Sie ist von aussen unsichtbar, nur ich kann ihre Hitze und Kraft spüren. Und ich bin ihr ausgeliefert. Sie gehört zu den Phänomenen der Fibromyalgie, einer Krankheit, die mich mein Leben lang begleitet.

Still liege ich da und durchdenke meine Optionen. Aufstehen, mich bewegen, dehnen, gegen den Schmerz atmen, Medikamente nehmen, das TENS-Gerät holen, Eisbeutel, Wärmedecke, Entspannungsübungen, Fluchen und Weinen. Ich entscheide mich für Aufstehen, auf den Balkon sitzen, Atemübungen machen und Tagebuch schreiben. Im ersten Morgenlicht geht mir durch den Kopf, dass ich für den gestrigen Tag büssen muss. Es zwar zu viel.

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Mein Leben ist so viel mehr als die Krankheit, auch wenn die Schmerzen jeden Tag da sind.
Anita Oswald

Die Energie einteilen

«Pacing» heisst die Lösung. Der Begriff kann mit «Energiemanagement» übersetzt werden und bedeutet, sorgsam mit den eigenen Energiereserven umzugehen. Ich vergleiche das gerne mit «Energiepäckli», die stelle ich mir wie ein Geschenk vor. Hübsch eingepackt, mit Schleife.

In jedem Paket steckt eine bestimmte Menge Energie. Pro Tag habe ich zwei Pakete zur Verfügung. Eines brauche ich für meinen Beruf. Und eines ist frei für Aktivitäten. Wenn ich nun an einem Tag Velo fahre, putze und ausgehe, ist das viel. Wenn ich dazu wenig Pausen mache, mich ungesund ernähre und Alkohol trinke, dann ist mein Energiepensum massiv überschritten.

Es gibt Tage, an denen geht das und es passiert nichts. An anderen Tagen ist ein solches Verhalten eine Einladung an die Fibromyalgie. Die Krankheit nutzt meinen unachtsamen Umgang mit Energie und breitet sich aus. Sie schickt Schmerzen durch meinen Körper. Sie brennt in meinen Muskeln. Sie stört meine Empfindungen, so ist mein Tastsinn beispielsweise beeinträchtigt. Dann kann ich nicht richtig greifen, mir fällt alles aus den Händen.

Wenn es schlimm wird, ist mein vegetatives Nervensystem so überlastet, dass es ausschaltet – ich werde kurz ohnmächtig und muss danach ein paar Stunden schlafen.

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Ruhepausen sind ein wichtiges Puzzleteil innerhalb meines Selbstmanagements.
Anita Oswald

Beschwerden – feste und wechselnde Begleiter

Einige Symptome der Fibromyalgie sind immer da. Die Schmerzen sind jeden Tag irgendwo im Körper vorhanden. Wenn sie ein bestimmtes Mass nicht überschreiten, registriere ich sie nur noch am Rande, traurigerweise gewöhnt man sich daran. Ich schlafe oft unruhig und fühle mich morgens nicht erholt. Ich bin sehr lichtempfindlich, meine Sonnenbrille trage ich das ganze Jahr hindurch. Auch Geräusche oder Gerüche sind schnell zu viel und zu heftig.

Das wirkt sich auf den Alltag aus, z. B. müssen Kosmetika neutral riechen, sonst kann ich sie nicht verwenden. Eine Bergbeiz im Winter: der Geruchsmix aus Küche, Sportkleidern und nassem Hundefell, da wird mir übel. Andere Symptome wechseln sich in der Ausprägung ab. Magendarmbeschwerden, Schwindel und Konzentrationsprobleme sind nur manchmal vorhanden. Dadurch bin ich in der Lage, voll zu arbeiten.

Das ist nicht selbstverständlich für jemanden mit dieser Krankheit. Denn Fibromyalgie ist eine Krankheit mit 1000 Gesichtern. Das sagt man auch von anderen Krankheiten, aber bei Fibro stimmt es absolut. Jede betroffene Person erlebt die Symptome unterschiedlich. Für einige Menschen sind die Schmerzen zermürbend, andere finden einen individuellen Umgang damit.

Bei einigen Betroffenen sind die kognitiven Ausprägungen stärker, bei anderen ist es die Erschöpfung. Einige haben Kopfschmerzen, andere kaum. Die Liste liesse sich beliebig weiterführen. Das macht die Behandlung und den Umgang mit der Krankheit herausfordernd.

Den eigenen Weg finden

Weil die Symptome vielfältig sind, ist Selbstmanagement ein weiteres Puzzleteil im Umgang mit der Krankheit. Jede Betroffene, jeder Betroffene muss für sich herausfinden, was hilft, denn es gibt keine Standardbehandlung. Dabei wäre es gerade in der Überforderung des Schmerzes so schön, nach Plan A vorgehen zu können. Oder die Last an eine Fachperson zu delegieren, die genau weiss, was helfen wird.

Diese Vorstellung aufzugeben, ist nicht einfach. Aber nur, wenn Betroffene Eigenverantwortung übernehmen und beginnen, ihren individuellen Weg mit der Krankheit zu finden, wird es besser. Für mich funktioniert ein Mix aus langsamer Bewegung, Wärme, Achtsamkeitsübungen, Ablenkung durch Hobbys und Ruhepausen.

Mein grosser Schwachpunkt ist das Essen. Ich weiss, es geht mir besser ohne Zucker, Fleisch und Alkohol. Aber ich liebe Schokolade. Im Schmerz greife ich nicht nach Paprika und Quinoa. Dann will ich Kuchen und Brownies. So bleibt die Ernährung ein Punkt mit Potenzial für mich.

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Trotz Fibromyalgie bin ich in der Lage voll zu arbeiten. Das ist nicht selbstverständlich für jemanden mit dieser Krankheit.
Anita Oswald

Alles, was hilft, ist richtig

Eigenverantwortung ist ein grosses Wort, auch für gesunde Menschen. Mit einer chronischen Erkrankung kann es überwältigend sein. Selbst Strategien finden gegen den Schmerz, optimistisch bleiben, trotz allem weiter machen. Das ist viel verlangt. Um mit den mentalen Aspekten der Fibromyalgie umzugehen, braucht es Unterstützung. Das kann eine psychologische Beratung sein, eine Psychotherapie oder ein Coaching.

Einige bevorzugen die Gesprächstherapie, andere lassen sich einfacher auf eine Körpertherapie ein. Die Medizin und die Komplementärtherapie bieten hier viele Möglichkeiten. Alles, was hilft und stärkt, ist richtig. Auch Meditation, Entspannungstechniken, andere Varianten zum Stressabbau – relevant ist nur, dass es unterstützend wirkt. Denn die Psyche ist entscheidend bei Fibro.

Die Krankheit ist da, sie lässt mich nie in Ruhe. Aber ich bestimme, wie ich mit ihr umgehe. Ich bestimme, welchen Platz sie in meinem Leben einnimmt. Wenn meine Gedanken nur noch um den Schmerz kreisten, würde ich durchdrehen. Verzweiflung frisst Energie. Der Schmerz wird dann überlebensgross, darunter kann man nicht mehr existieren. Mein Leben ist aber so viel mehr als die Krankheit. Ich habe so viel, das mich trägt und mir Freude bringt.

So gestärkt kann ich die Fibro als Teil meines Lebens akzeptieren. Aber ich ordne mich ihr nie unter, wir leben miteinander. Manchmal hat sie die Oberhand, öfter aber ich.

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Wann immer möglich bin ich mit meinem E-Bike unterwegs.
Anita Oswald

* Anita Oswald erhielt 2008 die Diagnose Fibromyalgie nach einem schweren Schub. Erste Anzeichen der Krankheit nahm sie schon in der Jugend wahr. Sie arbeitet in der Kommunikation und ist Mutter von zwei fast erwachsenen Kindern. Seit dessen Schaffung 2017 engagiert sie sich im Betroffenenrat der Rheumaliga Schweiz.

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